Es gibt Informationen, die es wert sind, nicht hinter einer Paywall zu liegen. ZEIT vom 18. Dezember 2019
Sie ärgern sich unterm Weihnachtsbaum, weil die Verwandtschaft über die Klimapolitik streitet? Damit die Sache nicht aus dem Ruder läuft, widerlegen wir 15 schlechte Argumente der Skeptiker – und ein ganz schlechtes der Klimaschützer.
1.
Flugverkehr oder Fleischverzehr verursachen doch nur einen Bruchteil der Emissionen, man sollte lieber bei den Kohlekraftwerken anfangen
Für das Anfangen ist es ein bisschen spät. Weil so lange nicht wirklich begonnen wurde mit der Klimawende und auch heute noch immer mehr emittiert wird statt weniger, muss nun an allen Fronten zugleich etwas – nein: sehr viel – geschehen, bei Kohle und Fleisch. Und natürlich kann man die Anteile eines jeden Sektors und Faktors runterrechnen, fest steht allerdings: Die Summe aller Faktoren ergibt hundert Prozent der Emissionen. Und die müssen ungefähr binnen zwei, höchstens drei Jahrzehnten bei nahe null landen.
2.
Elektroautos sind auch Umweltkiller
Stimmt schon, bei Elektroautos fällt ähnlich viel CO₂ an wie bei einem Benziner, vor allem wenn der verwendete Strom aus Kohle stammt. Das ist aber kein Argument gegen Elektromobilität, sondern eins für den schnellen Kohleausstieg. Oder eins gegen Autos schlechthin. Denn wenn das CO₂-Budget begrenzt ist, dann ist die Alternative zum Elektroauto nicht der Verbrenner, sondern das Fahrrad oder die U-Bahn.
3.
Ökologie muss man sich leisten können, auch in Deutschland können viele das nicht
Da ist was dran, das untere Einkommensdrittel kann sich Ökologie nicht leisten, muss es aber auch nicht, die Hauptverursacher von Emissionen sind die anderen zwei Drittel, weil sie größere Wohnungen beheizen, größere Autos fahren und öfter fliegen. Außerdem: Wenn die Preise die ökologische Wahrheit sagen würden, dann wären unökologische Produkte sehr viel teurer, ökologische aber billiger – und auch für die Ärmeren erschwinglich. Im Übrigen: Warum entdecken all die Liberalen gerade jetzt, dass Arme sich Dinge nicht leisten können, die für Reiche ein Klacks sind, warum erst beim Klima und nicht schon beim Zahnarzt?
4.
Ich vermeide doch schon überall Plastiktüten
Das halten viele für den größten Beitrag, den man als Individuum zum Klimaschutz leisten kann. Allerdings spart das jährlich gerade mal 0,003 Tonnen CO₂ ein, die bei der Produktion der Tüten anfallen. Das heißt: Kann man in die Tonne treten. Also den Glauben, Plastik sei unser größtes Problem. Weniger Mobilität, weniger Konsum, das würde weit mehr helfen. Wäre aber auch die größere Umstellung. Es ist wie bei einer Diät: Was uns am leichtesten fällt, ist leider nicht zwangsläufig das, was am meisten hilft. (Kleiner Trost: Plastik vermeiden nützt den Meeren, auch sehr wichtig.)
5.
Es ist vor allem das rasante Bevölkerungswachstum, das allen Klimaschutz zunichtemacht, aber das Thema ist ja tabu
Dafür, dass es tabu ist, wird doch ziemlich viel darüber gesprochen. Und unter Klima-Gesichtspunkten ist die Sache denkbar einfach: Zum einen lässt sich mit vertretbaren humanen Mitteln nicht so schnell an der Bevölkerungsschraube drehen, wie sich die Klimakrise entwickelt. Die Erhitzung ist sozusagen schneller als die Pille. Zum anderen emittiert ein Deutscher achtmal so viel wie zum Beispiel ein Inder. Das Problem sind also weniger die vielen Menschen in Afrika als die Vielfach-Menschen. Wir.
6.
Deutschland trägt nur zwei Prozent zu den globalen Emissionen bei, was nützt es da, wenn wir uns noch mehr anstrengen und China nicht?
Zwei Prozent der Emissionen, ja, aber bei nur einem Prozent der Weltbevölkerung, also pro Kopf doppelt so viel, wie legitim wäre. Laut Klimaschutzindex 2020 liegen wir bei den Anstrengungen nur noch auf Platz 23 – kurz vor China. Hielte Deutschland sich an seine Zusagen von Paris, könnte die Bundesregierung auch mit größerer Glaubwürdigkeit andere an deren Zusagen erinnern. Zum Beispiel im September, wenn der chinesische Präsident zum Gipfeltreffen nach Leipzig anreist. Jeder Mensch ist übrigens nur ein Achtmilliardstel der Weltbevölkerung, das heißt: fast nichts. Sollte er deswegen auch fast nichts tun?
7.
Im Angesicht der Bedrohung wird die Menschheit schon etwas erfinden
„Erfinden“, das verweist auf Technik und klingt daher rational. Ist es aber nicht. Weil bei einem globalen Problem, das sich aus sehr verschiedenen Ursachen speist, die Rettung durch ein, zwei Erfindungen extrem unwahrscheinlich ist. Und diese Technologie müsste ja auch noch global implementiert werden, was Jahrzehnte dauern würde – zu lange. Und was das Angesicht der Bedrohung angeht: Beim Klima erleben wir immer den Schaden, den wir vor zwei Jahrzehnten angerichtet haben. Wenn also der Menschheit der Schreck so richtig in die Glieder fährt, ist es fürs Umsteuern tatsächlich zu spät.
8.
Windräder töten massenhaft Vögel, das ist den Klimaschützern aber gleichgültig
Welche Gefahr Windräder für Vögel darstellen, hängt stark vom Standort der Anlagen ab. Schätzungsweise geraten 100.000 Vögel jährlich in die Rotorblätter. Mehr als 18 Millionen dagegen kommen jährlich durch Glasscheiben um. Weil sich niemand die Mühe macht, Vogel-Silhouetten auf die Scheiben zu kleben. Auch Autos sind Vogelkiller, ganz zu schweigen von der konventionellen, sprich: pestiziösen Landwirtschaft. Und wie beim Elektroauto gilt auch hier: Wem Windräder nicht ökologisch genug sind, für den ist Kohle nicht die bessere Alternative, sondern der Stromverzicht. Also kein Elektro-SUV, keine Küchengeräte und so weiter. Gegen Windräder zu sein ist eine sehr öko-rigorose Idee.
9.
Man muss sich mit Alarm zurückhalten, sonst verschreckt man die Leute
Genau das tut die Politik seit Jahren. Sie tut so (siehe Klimapaket), als tue sie schon was. Als sei die Lage unter Kontrolle, das Land auf dem richtigen Weg. Tatsächlich ist die Lage viel dramatischer, als es einer breiten Öffentlichkeit bewusst ist. Seit dem Pariser Abkommen im Jahr 2015 hat sich die Situation verschlechtert und haben sich die Prognosen verschärft. Das lässt sich auf Dauer schwer verheimlichen. Die Katastrophe am Horizont verschwindet nicht durch Verschleierung, sie baut sich, den Blicken entzogen, nur umso schrecklicher auf.
10.
Den Atomkrieg vermeiden und Armut bekämpfen ist viel wichtiger als das Klimathema
Die atomaren Gefahren sind tatsächlich höchst real. Der Klimawandel, den das Pentagon als „Bedrohungsmultiplikator“ bezeichnet, macht die Situation aber noch brenzliger. Indem er die Welt destabilisiert, erhöht er das Risiko von Krisen und Kriegen. Gute Klimapolitik ist darum immer auch Friedenspolitik. Und Armutsbekämpfung. Wo die Wirtschaft darbt, wie im globalen Süden, sind die Bedingungen für Wind- und Solarkraft meist blendend. So haben fast alle großen Probleme eine energiepolitische Facette. Wer Kritik abwehrt, indem er einfach auf andere Missstände hinweist, hat am Ende beides an der Backe: Klimakrise und Atomgefahr müssen bewältigt werden. Zugleich.
11.
Wissen wir denn so genau, dass die Prognosen stimmen? Wissenschaft muss falsifizierbar sein, wenn sie nicht Ideologie sein will
Stimmt, Klimawissenschaftler haben sich gelegentlich verschätzt, genauer: die Dynamik der Klimakrise unterschätzt. Es kann sein, dass die Wissenschaftler auch in Zukunft ein wenig danebenliegen, aber würde man bei einer zu 98 Prozent sicheren Krebsdiagnose nur die halbe Chemotherapie machen? Natürlich ist Klimawissenschaft falsifizierbar, vielleicht werden es, wenn sich nichts ändert, nur vier Grad statt sechs. Aber auch bei vier möchte man bei der Falsifizierung lieber nicht dabei sein.
12.
Es ist schon zu spät, der Klimawandel lässt sich nicht mehr aufhalten
Ja, klar, wenn es zu früh ist, muss man nicht handeln, wenn es zu spät ist, ebenso wenig. Zurzeit geht die Wissenschaft davon aus, dass etwa zehn Jahre bleiben, um die Erwärmung bis 2100 unter zwei Grad zu halten. Und wenn das nicht gelingt? Dann kann immer noch jedes Jahr früher oder später, in dem die CO₂-Emissionen gestoppt werden, und jedes Grad mehr oder weniger einen Unterschied wie Tag und Nacht ausmachen. Wäre es wirklich für alles zu spät, würde übrigens auch das Weiter-so von heute sofort seinen Sinn verlieren – und ginge nicht mehr weiter.
13.
Okay, der Klimawandel ist ein Problem, aber wir dürfen jetzt nichts überstürzen
Schon. Aber das tut auch niemand. Nie ist eine sich entfaltende Krise länger analysiert worden als die Erderwärmung, nie sind die nötigen Maßnahmen dagegen genauer diskutiert und erprobt worden, nie hatte die Menschheit mehr Zeit für technische Erfindungen aller Art, nie konnte sie im Angesicht eines so existenziellen Problems ohne Verzicht einfach so weitermachen. „Es ist zwingend geboten, unverzüglich zu handeln“, verkündete die Weltgemeinschaft auf dem Umweltgipfel in Toronto – im Jahr 1988. Wenn jetzt radikal umgesteuert werden sollte, liegt darin die Kraft der Ruhe dreier Dekaden.
14.
Die Demokratie muss sich für das Problem die Zeit nehmen, die sie eben braucht
Das ist wahr, allerdings hat sich nicht die Demokratie, wohl aber haben sich die jeweiligen Regierungen jetzt schon 30 Jahre Zeit genommen, indem sie weitgehend untätig blieben. Die vergangene Zeit kann man sich nicht immer wieder nehmen. Für jedes Jahr, in dem wir die Klimaziele verfehlen, können wir nach hinten raus nicht ein Jahr dranhängen. Im Gegenteil: Je langsamer wir heute sind, desto schneller müssen wir in ein paar Jahren sein. Die Demokratie nimmt sich Zeit – weg.
15.
Klimaschützer fahren Fahrrad, aber fliegen – Veganer fahren SUV, das ist alles Doppelmoral, wer soll denen denn glauben?
Hier handelt es sich um ein Missverständnis, nein, um zwei: Zum einen ist es selbstverständlich klimafreundlicher, wenn jemand nicht auch noch Fleisch isst, wenn er schon SUV fährt, besser als dickes Steak und dickes Auto. Schließlich kommt es nicht auf maximale Konsequenz an, sondern auf minimale Emissionen. Zum anderen geht es gar nicht um Moral oder Ideologie von Klimaschützern, denn: Auch wenn der letzte Öko ideologisch widerlegt und moralisch zerschmettert ist, sind die Emissionen exakt so hoch wie zuvor.
Das Totschlagargument
All die Argumente und Einwände der Klimaskeptiker sind kleinlich, nichtig und illegitim, weil es um das Überleben der Menschheit geht
Ein Argument schlägt alle anderen? Sein oder Nichtsein? Das klingt zu Recht verdächtig – und repressiv. Ob es wirklich und buchstäblich um das Überleben der Menschheit geht, ist noch lange nicht ausgemacht, dieser Extremfall läge dann auch in sehr ferner Zukunft. Den kann man also schlecht dazu benutzen, schon jetzt alle Gegenargumente für gegenstandslos oder gar obszön zu erklären. Sicher sagen lässt sich nur, dass die Welt, wie wir sie kennen, bei einem Temperaturanstieg von über zwei Grad nicht mehr existieren würde und dass das Leben auf der Erde viel beschwerlicher, dunkler und für Abermillionen auch tödlicher werden würde. Aber viele stellen sich eine Klimawende eben auch beschwerlich und dunkel vor. Und schon steht es trotz Totschlagargument: eins zu eins, unentschieden.
Und hier noch ein paar weitere Phrasen, die man zum Klimawandel immer wieder hört und die so nicht haltbar sind.